Zeitungskolumnen

"Hast du etwas Geld?"

Wenn mein Portemonnaie fast leer ist und ich zufällig in der Nähe des Oltner Bahnhofes bin, steure ich jeweils den Postomat in der Unterführung an und entlocke ihm eine oder auch mehrere Hunderternoten. Das klappt meistens problemlos. Das letztemal war ich gerade damit beschäftigt, die Postomat-Karte und die Noten in meine Taschen zu stecken, als ich eine Bekannte zu sehen glaubte. Doch Irrtum, ich hatte mich getäuscht und mit einer fremden Frau Blickkontakt aufgenommen. Bevor ich wegschauen konnte, war es schon passiert.

Sie kam fröhlich vor sich hinsummend auf mich zu. «Hast Du etwas Geld?» fragte sie ohne Umschweife, und ich antwortete: «Nein, tut mir leid.» Obwohl es natürlich nicht stimmte, denn ich hielt die zwei Hunderter noch immer in der Hand. Doch die Frau hatte begriffen und ging mit beschwingten Schritten summend weiter.

Endlich einmal hart geblieben, denke ich. Früher war ich leichtere Beute für Leute in finanziellen Nöten. Aber mittlerweile würde man unversehens selber in solche geraten, wollte man auf jede Anfrage eingehen. Als vor einigen Jahren das Betteln in der wohlgenährten Schweiz aufkam, liessen sich - das Wort widerstrebt mir zwar - die «Bettler» noch einiges einfallen. Sie erzählten Geschichten von verlorenen Portemonnaies, Zugbilletts, Autopannen oder was weiss ich alles. Und wer konnte da so ohne weiteres sagen, ob das nun stimmte oder nicht? Und wer weiss, wir alle geraten einmal in Not und brauchen vielleicht Hilfe. So habe ich eben manchmal in die Taschen gegriffen und etwas Geld lockergemacht. Auch wenn ich an der Geschichte meine Zweifel hatte. Wenn's nicht stimmt, so ist es immerhin gut erfunden, dachte ich mir. Und das ist doch auch eine kleine Belohnung wert.

Heute wird man gerade rund um den Oltner Bahnhof oft sehr direkt nach Geld gefragt, und ich bleibe meistens hart. Es macht ja auch keinen Sinn, wenn ich jemandem, der dringend einige Noten für seinen Stoff braucht, einen Zweifränkler gebe. Die Frage, wo die junge Frau nun ihr Geld hernimmt, beschäftigt mich allerdings trotzdem. Das Ganze erinnert mich an jene Szene im Spike-Lee-Film «Jungle Fever», wo der Hauptdarsteller von seinem Crack-süchtigen Bruder erpresst wird. «Willst du wirklich, dass ich alte Leute überfallen muss?» redet der zappelige Süchtige auf seinen gutsituierten Bruder ein, bis dieser schliesslich klein beigibt. Eine Szene, in der einiges an Komik steckt, die aber im Grunde genommen natürlich voller abgrundtiefer Tragik ist.

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