Zeitungskolumnen

Stilles Begräbnis für einen 20-Jährigen

Die letzte Kolumne in diesem Jahr möchte ich Marcel C. widmen, der diesen Herbst jämmerlich in der Aare ersoffen ist. Eigentlich wollte ich die Geschichte seines Todes journalistisch dokumentieren, doch es blieb bei einigen Notizen, die noch immer auf meinem Pult liegen. Beim Recherchieren stellten sich heikle Fragen des Personenschutzes, und bei der Polizei wollte niemand Auskunft geben. Über so einen Todesfall zu schreiben sei geschmacklos, fand der Beamte vom Informationsdienst. Ich werde es nun aber trotzdem tun, auch wenn die Geschichte schon Monate zurückliegt und für eine Tageszeitung längst Schnee von gestern ist.

Der junge Mann sprang nicht einfach so in den Fluss. Gemäss der Polizeimeldung tat er es, um sich einer Personenkontrolle zu entziehen, nach Angaben von Augenzeugen hingegen, weil er von den Polizisten gejagt wurde. Welche Version stimmt, bleibt wohl ein Geheimnis, denn die Polizei findet es wie gesagt geschmacklos, solchen Geschichten nachzuforschen. Eine junge Frau, die dabeistand, versuchte Marcel aus dem kalten Wasser zu retten, konnte aber nichts mehr ausrichten. Ein paar Tage später wurde die Leiche beim Kraftwerk in Niedergösgen gefunden.

Marcel C. hatte keinen festen Wohnsitz. Zeitweise lebte er bei seinen Eltern, die als Fahrende irgendwo an einer Autobahn wohnen. Der Unbehauste, der kaum je eine Schule von innen gesehen hatte, fand sich in dieser Gesellschaft nie zurecht. Schon gar nicht in den Institutionen, in die er immer wieder eingewiesen wurde. Am Ende seines 20jährigen Lebens war er ständig auf der Flucht vor der Polizei, weil er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt kam.

Vor seinem Tod spritzte sich Marcel C. auf dem Oltner Drogenplatz Kokain ins Blut. «Huereguet» sei es eingefahren, erzählte ein Kollege von ihm, der sich nicht einmal mehr an Marcels Namen erinnert. Das war einfach jener, der ersoffen ist. Einer mehr, der weg, tot ist. Marcel C. sprang fast unbemerkt aus dem Leben. Als er identifiziert werden konnte, gab es keine Todesanzeige. Nur ein stilles Begräbnis, das die Aargauer Jugendanwaltschaft organisieren und bezahlen musste, weil niemand sonst sich für den Toten zuständig fühlte und seine Eltern kein Geld für eine Beerdigung hatten.

«Nichts ist beschissener, als zu sterben, und niemand merkt es», sagt ein Aids-Kranker in einem Zeitungsinterview. Die Kolumne soll so etwas wie eine späte Todesanzeige für einen sein, der fast unbemerkt aus dem Leben sprang.

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